‚Zwischen Flüchtlingsunterbringung und Obdachlosenunterkunft‘ in München 2016

Ein Fachtag der LAGÖFW in Bayern unter Federführung der Koordination Wohnungslosenhilfe Nord- und Südbayern.

 

Die Landesarbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege Bayern (LAGÖFW) veranstaltete am 17. November 2016 in Kooperation mit den Koordinationsstellen Wohnungslosenhilfe Nord- und Südbayern in der Katholischen Akademie in München einen Fachtag zum Thema „Zwischen Flüchtlingsunterbringung und Obdachlosenunterkunft. Integrationsperspektiven – Herausforderungen für öffentliche und freie Träger.“

 

von Bern Hein, München

 

 

„Immer mehr anerkannte Flüchtlinge suchen dank beschleunigter Asylverfahren nach einer Wohnung. Viele werden vermutlich keine finden.“ Prägnanter kann man ein soziales Problem und die Dringlichkeit, es zu lösen oder wenigstens zu mildern, kaum benennen. Die LAGÖFW tat es in der Einladung zu einem Fachtag. Die Einrichtungen der freiverbandlichen und kommunalen Wohnungslosen- und Obdachlosenhilfe wissen, wovon sie sprechen. Sie erleben die Wohnungsnot Tag für Tag. Nicht nur bei anerkannten Flüchtlingen, sondern auch bei sozial schwachen Deutschen. Hinzu kommen innereuropäische Migranten, die nach der Erweiterung der Europäischen Union 2014 und den mit ihr einhergehenden Freizügigkeitsregelungen in Deutschland Arbeit und Wohnung suchen. Rückmeldungen aus dem Hilfesystem der Wohnungslosenhilfe zeigen, dass dort bereits mehr als die Hälfte der Hilfesuchenden Zuwanderer sind, Tendenz steigend.

 

 

Mit Vorurteilen aufräumen

 

 

Populisten und andere schlichte Denker glauben die Gründe für die Wohnungsnot zu kennen: allein der Zustrom der Flüchtlinge sei schuld, sie nähmen den Deutschen die Wohnungen weg. Absolut falsch, sagte die Münchner Soziologin Saskia Gränitz. Längst vor dem Flüchtlingszustrom habe es in Deutschland Wohnungsnot gegeben. Sie untermauerte das mit Zahlen, und sie nannte Gründe, u. a. das Erliegen des Sozialen Wohnungsbaus, hinter dem ein neoliberaler politischer Paradigmenwechsel seit den 1980er Jahren stehe, der die Verantwortung für genügend guten Wohnraum vom vorsorgenden Staat auf den freien Markt und damit auf den oft völlig überforderten Einzelnen geschoben habe. Ein politisches Paradigma kann man korrigieren.
Download des Vortrags von Frau Gränitz hier

 

 

Hilde Rainer Münch (Landes-Caritasverband Bayern), die Vorsitzende des LAGÖFW-Fachausschusses Wohnungslosenhilfe, sagte denn auch zum Abschluss der Tagung unmissverständlich: „Das Recht auf Wohnen ist ein Menschenrecht. Wohnungsversorgung ist eine öffentliche Aufgabe. Man darf sie nicht dem Markt überlassen. Das hat sich als nicht tragbar herausgestellt.“

 

Podiumsdiskussion: von links Andreas Kurz, Ludwig Mittermeier, Gisela Thiel, Johanna Rumschöttel, Gerhard Dix, Dr. Stefan Kiefer © Willi Kronberger

 

Das vollständige Programm, das auch die Themen der fünf Fachforen wiedergibt, finden Sie hier

 

 

Gefahr politischer Verschiebebahnhöfe

 

 

Wer zahlt? Für die Unterbringung von Wohnungslosen sind nach dem Sicherheitsrecht (Art 7 LStVG), in dem die Wohnungslosenhilfe gesetzlich verortet ist, die Städte und Gemeinden als örtliche Ordnungsbehörden zuständig. Das leugnen sie auch nicht, und sie erfüllen auch ihre gesetzliche Pflicht. Aber, sagte Gerhard Dix, der Referent des Bayerischen Gemeindetags, Flüchtlinge, die nach ihrer Anerkennung aus den staatlichen Gemeinschaftsunterkünften ausziehen müssen, nun eine Wohnung suchen und keine finden – das sind doch keine Obdachlosen, deren Unterbringung in die Pflicht der Kommune fällt. Denn als obdachlos gelte, wer kein Dach über dem Kopf habe und deshalb in einer plötzlichen, akuten Notlage sei. Das aber treffe auf die anerkannten Flüchtlinge nicht zu, sagte Dix, denn deren Wohnungsnot sei seit langem absehbar. Als Gewährsmann führte er den Bayerischen Innenminister Joachim Herrmann an, der im Landtag dieselbe Rechtsauffassung vertrat. Dix forderte rechtssystematisch konsequent vom Staat, dass Flüchtlinge auch nach einem für sie erfolgreichen Abschluss des Asylverfahrens in den bisherigen Unterkünften bleiben können, diese Übergangslösung habe sich bewährt. Er wollte die kommunale Verantwortung keineswegs wegschieben, sondern nahm den Bund, die Länder und die Kommune in die Pflicht, das Problem gemeinsam zu lösen statt es einseitig einer Seite zuzuschieben. Konsens innerhalb der LAGÖFW ist das nicht. Der Städtetag sieht es anders. Sollte es hier zu einer politischen Verschiebung kommen, bedeutete das zunächst Zeitverzögerung für die Integration von Migrantinnen und Migranten.

 

 

Zauberwort Vernetzung

 

 

Vernetzung, das ist nicht nur das Zauberwort der Sozialpädagogik, auch die Politik auf allen Ebenen hat es entdeckt. Das ist auch nötig, denn der soziale Bereich ist stark segmentiert in verschiedene Bereiche mit verschiedenen Rechtsgrundlagen und Zuständigkeiten. Wenn also Wohnungslosenhilfe und Migrationshilfe nebeneinander her arbeiten, das wäre zum Schaden beider Hilfesysteme und damit ihres Klientels. Die Vernetzung zwischen den beiden Systemen ist teilweise schon da, teilweise aber auch ausbaubar. Die Wohnungslosenhilfe braucht Migrationssensibilität und interkulturelle Kompetenz, die Migrationshilfe muss sich kundig machen über die Mechanismen und Folgen von Obdachlosigkeit. Jedes System muss seine Kompetenzen einbringen, enge Zusammenarbeit vor Ort ist mehr als angesagt.

 

 

Ohne Wohnung ist alles nichts

 

 

Eine Münchner Migrationsberaterin der Caritas brachte es auf den Punkt: „Ohne Wohnung ist alles nichts.“ Man biete den Wohnungssuchenden Rollenspiele an, wie sie sich bei Gesprächen mit Vermietern gut „verkaufen“ könnten, man rede mit den Vermietern, man schule Ehrenamtliche, die Wohnungen suchen helfen, man setze Dolmetscher ein, man schalte sich bei Konflikten ein. Aber es fehle eben an Wohnungen. „Bauen, bauen, bauen“, sprach deshalb Diakonievorstand Dr. Tobias Mähner (Nürnberg) allen im Saal aus der Seele und dem Verstand. Der Münchner Landtagsabgeordnete Joachim Unterländer warf dem Bund vor, er habe sich viel zu lange aus der Wohnungsbauförderung verabschiedet und damit die Wohnungsnot mit verursacht. Hier gelte es endlich neue Initiativen zu ergreifen. Natürlich lobte er die Bayerische Staatsregierung für ihren „Wohnungspakt Bayern“, der angesichts des ohnehin großen Wohnungsbedarfs von Deutschen und des Zustroms an Flüchtlingen mehr Wohnraum für alle schaffen werde. Das Programm trage dazu bei, dass es auf dem Wohnungssektor und in der Gesellschaft keine echte „oder auch nur gefühlte Konkurrenz“ zwischen Einheimischen und Flüchtlingen geben könne. Dieser Meinung war auch der LAGÖFW-Vorsitzende Landrat Thomas Eichinger (Landsberg am Lech): „Verhindert werden muss ein gegenseitiges Ausspielen, Bevorzugung einzelner Gruppierungen und das Entstehen sozialer Exklusion.“

 

 

Was ist zu tun?

 

 

Ein Weg ist sicher kein Weg, nämlich auf die baldige Rückkehr der Flüchtlinge, wenn auch erst nach einer positiven Veränderung in ihren Heimatländern, zu setzen. Gerhard Dix: „Zwei Drittel derer, die hier sind, bleiben hier. Und es ist noch lange nicht zu Ende. Schauen Sie mal nach Afrika. Wir leben in einem Zeitalter der Völkerwanderung, auf Grund der blanken Armut und des Klimawandels.“ Was also ist zu tun? Erstens: Soziale Wohnraumförderung für alle Zielgruppen. Das ist Sache des Staates auf allen Ebenen. Dazu gehören auch rechtliche Klärungen, etwa der Umgang mit dem Leerstand von Wohnungen, ebenso neue Modelle, etwa Genossenschaftsmodelle und eine sachliche Diskussion über die Standards. Für neue Wohngebiete braucht es von Anfang an begleitende Betreuung.Zweitens: Ausbau der sozialpädagogischen Begleitung der Betroffenen und der Prävention, der Verhinderung von Obdachlosigkeit. Die Betroffenen brauchen manchmal auch Begleitung über den Mietabschluss hinaus. Manche Migrantengruppen, etwa Frauen und Kinder, brauchen besondere Beachtung und Konzepte. Drittens: Strukturelle Vernetzung und Austausch auf allen Ebenen. Die ambulanten und stationären Dienste und Einrichtungen, die freien und die öffentlichen Träger der Wohnungslosenhilfe und der Migrationshilfe dürfen nicht nebeneinander her arbeiten. Viertens: Investition in das Solidaritätspotential der Zivilgesellschaft. Fünftens: Kommunikation: Sammlung und Weitergabe von best-practice-Modellen.

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